Ich denke und bin trotzdem nicht

Ein Schauspiel in insgesamt drei Akten

0. Akt

Der Regisseur des Stückes bereitet dies nach Belieben vor, wobei er sicherstellen sollte, daß ihn der Großteil des Publikums in seiner Funktion und vor allem als Person erkennt.
Der Kritiker wie der Autor besuchen die Aufführung auf die jeweils für das Publikum übliche Art. Das heißt sie kleiden sich zu Hause an, fahren selbstständig zum Aufführungsort, kaufen sich eine Karte und suchen sich einen Platz. Auch für den Kritiker ist entscheidend, daß das Publikum ihn als solchen kennt.

[Die Programmhefte sollten das Stück als eines ohne Schauspieler ausweisen. Einführende Texte über Grausamkeit in der heutigen Welt wären sinnvoll. Auch Verweise zum Existentialismus sind angebracht. Der Titel des Stückes im Programmheft sollte auch diese thematische Richtung aufweisen.]
 

1. Akt, 1. Szene

[Die Bühne ist leer, vielleicht mit einigen minimalistisch-modernen Accesoires angereichert. Die Beleuchtung kann diffus oder auch hart sein. Autor und Kritiker haben im Publikum platzgenommen, der Regisseur hält sich unsichtbar in der Nähe auf.]

[Der Vorhang geht auf. Für einige Zeit passiert nichts. Dann beginnt der Kritiker mit einem Signalhorn zu tröten.]

Kritiker: Blasphemie! Aufhören!

[Von irgendwoher läuft der Regisseur zu ihm, beugt sich zu ihm hinunter und spricht ihn leise an.]

Regisseur: Würden sie das bitte unterlassen? Sie stören das Schauspiel.

K: Achwas? Ich höre nicht auf, bevor sie aufgehört haben! Was soll der ganze Schabernack da vorne? Soll das etwa ihr Umgang mit den Kriegsgräuel sein, Nachgeborener?

R: Also, bitte. Wie ich die Sache bearbeite, ist nun wirklich meine Sache und nicht ihre!

[Während er dies sagt, trötet der Kritiker erneut, bis der Regisseur ihm das Horn wegnimmt. Der Regisseur spricht jetzt aufgebracht.]

R: Jetzt ist es aber gut! Ein interessanter Umgang, den sie hier mit der Meinungsfreiheit treiben!

K: Sie haben ja gar keinen Kontakt zum Unaussprechlichen, darum muß man verhindern, daß sie Lügen in die Welt setzen!

R: So, dann darf ich annehmen, daß meine Darstellung IHRES unaussprechlichen auch schon Lüge ohne Worte war?

K: Und ob! Sie können froh sein, daß ich alles weitere verhindert habe, sonst hätten sie schon einen wilden Zuschauermob auf den Fersen!

R: Haben sie überhaupt schon mal ins Programmheft geschaut?

[Er angelt sich von irgendwem ein Programmheft und hält es dem Kritiker ostentativ entgegen.]

R: Hier steht zu lesen, daß das ganze Stück überhaupt keine Schauspieler hat! Folglich wird die ganze Handlung wohl auch eine Unhandlung sein! Unsagbarer kann man es nun wirklich nicht ausdrücken!

K: Ach, eine Unhandlung, ja? Und was machen sie gerade? Kartenverkäuferplausch?

R: [Ist verdutzt] Sollen wir Schauspieler sein? Glauben sie etwa, mein vermutlich ziemlich ungelenkes Gestammel könnte irgendjemand für Theater halten?

K: Ein Theater, fürwahr! Geben sie's doch zu: Ihre Intention war von Anfang an, die Zuschauer zu provozieren. Das eigentliche Schauspiel wäre der Eklat und die öffentliche Diskussion nach der Vorstellung gewesen. Und sie hätten sich da fein raushalten können und die anderen der eigentlich für sie bestimmten Kritik ausgesetzt! Aber dem habe ich einen Riegel vorgeschoben! So nicht! Jetzt sehen sie sich direkt mit ihrem Publikum konfrontiert und müssen auf es eingehen!

R: Aha, ich rede also mit dem Publikum. Auf mich macht es eher den Eindruck, als streite ich mich mit ihnen alleine. Nun sagen sie tatsächlich, sie wären das Publikum? Letztlich sind sie doch genauso eine Marionette des Stückes wie ich, wo bleibt denn jetzt die wahre, offene und kommunikative Auseinandersetzung?

[Spätestens jetzt ist der Regisseur wirklich wütend (soweit er dies hinbekommt).]

K: Marionette von wem? Dem Autor etwa? Neineineineinein, mein Lieber, da irren sie sich aber! Wo liegt denn bitte die Unterscheidung? Was soll mich denn vom Rest der Menschheit trennen? Ich habe heute am frühen Abend etwas passendes aus meinem häuslichen Kleiderschrank geholt. Ich habe wie alle anderen eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung mein Auto auf den Parkplatz gestellt. Ich stand wie alle anderen am Eingang an und habe mir für sieben Mark fünfzig eine Karte gekauft. Und morgen wird meine (vernichtende) Kritik wie immer in der Zeitung stehen. Was macht den Unterschied?

[Von jetzt an wird der Regisseur recht rasch wieder ruhiger.]

R: Ist ja wohl ganz einfach: sie sprechen auswendig gelernten Text. Außer mir sind sie dabei hier der einzige.

K: Achja? Aber was ist mit jenem Mann, dem sie das Programm weggenommen haben? Saß er nicht nur da mit dem Pamphlet, damit sie es sich greifen konnten? Und wie wollen sie bitteschön feststellen, daß ich Text herunterleiere? Die Gedanken sind frei und unbeweisbar-unergründlich. Im Gegenteil: Ich behaupte, daß sogar sehr viele Menschen hier Text für heute Abend auswendig gelernt haben. Wie viele haben sich passende Phrasen zurechtgelegt, manchmal schon seit Jahrzehnten? "Oh, was für eine Überraschung! Ist doch immer wieder ein schöner Anlass, so ein Theaterabend blablablabla..."

R: Insofern stimmen sie mir aber zu, daß das eigentliche Schauspiel nicht auf der Bühne stattfindet.

K: Wenn es denn tatsächlich der entscheidende Punkt wäre und nicht nur der altbekannte Narzißmus des Publikums oikumenischer Künstler. Aber um uns Klarheit zu verschaffen, könnten wir ja den Autor befragen. Ich habe zwar nicht ihr Programmheft, dafür aber den Originaltext gelesen. Und der Autor hat seinen Platz in der Inventarliste für den Bühnenaufbau. Sehen sie, da vorne sitzt er.

[Der Kritiker zeigt auf den Autor. Dieser dreht sich klischeemäßig überrascht um. Dann sehen sich die drei für eine Weile an.]

R: Woher wollen sie wissen, daß er bei der Antwort nicht einfach nur eine (vielleicht seine) Rolle spielt, wie wir offensichtlich wohl alle?

K: Man müsste ihn direkt fragen. Gibt er zu, er selbst zu sein, ist er es auch. Sollte er es leugnen, steht fest, daß er sich selbst spielt. Nur das eigentliche Problem ist, daß, sollten wir wider meiner ursprünglichen Überzeugung seine Phantasie in die Tat umsetzen, wir ihn gar nicht fragen können, ob wir echt oder gespielt sind. Denn er hätte (wenn er halbwegs schlau ist) schon bei der Niederschrift des Stückes vermeiden können, uns Fragen an ihn richten zu lassen. Umgekehrt: fragen wir ihn und er streitet es ab, macht er sich in eigener Person zum Handlanger seiner selbst.

R: Aber er kann doch in jedem Fall nur etwas sagen, was auf seinem Kraut gewachsen ist. Deshalb entsprechen seine Aussagen immer seiner Intention.

K: Nur stammen sie im einen Fall von seiner direkten ersten Persönlichkeit. Im anderen hat er seine Vorstellung niedergeschrieben, sie haben sie durch ihre theatralischen Erkenntnisse transformiert und ihn in der Ausführung instruiert [man könnte auch "unterwiesen" verwenden]. Dadurch entsteht ein Wesen, daß ihn nur noch zum Teil ausmacht. Denn darin haben sie ihre Persönlichkeit einmal und er sogar zweimal eingebracht.

R: "Zu was macht uns das?"

K: "Im Grunde genommen zu gar nichts." Aber überlegen sie sich mal: am Ende könnte er etwas sagen müssen, was er ursprünglich gar nicht wollte.

[Einen Augenblick beobachtet der Regisseur den Autor.]

R: Er hat bis jetzt übrigens noch keinen Ton gesagt.

K: Mal ganz davon abgesehen, daß wir ihn auch nicht gefragt haben.

R: Und? Woll'n wir noch?

K: Nein.

R: So plötzlich ein Sinneswandel?

K: Da damit vermutlich eine weitere Einschränkung meiner schon von ihnen genug angegriffenen Persönlichkeit verbunden wäre, ist ein Verzicht zur Rettung meiner Persönlichkeitsstruktur und damit meiner Glaubwürdigkeit meinen Mitmenschen gegenüber durchaus angebracht. Ich für mich kann damit leben, über meinen Bewußtseinszustand unaufgeklärt zu bleiben.

R: Dann sollte ihn vielleicht ein anderer aus dem Publikum fragen.

K: Schön, daß wenigstens sie mich wieder zur Menschheit rechnen.

R: Pardon.

K: Soweit gibt es keinen Schutz vor dramatischer Willkür, für jeden hier nicht, solange er an diesem Schauspiel teilnimmt. Alles ist gelogen, und doch nicht - wahr.

R: Anstatt auf eine undurchsichtige Handlung zu bauen, könnte man auch alles Fehlbare weglassen und die Handlung an eine unter Umständen sogar leere Bühne übergeben...

K: ...die selbst objektiv nur wenig falsch machen kann.

R: Die Bühne steht aber für mehr, als das namenlose aus dem Titel oder ein "System" oder "die Maschine". Sie steht für die bangende Ungewissheit, was in dieser Theaterwelt möglich sein könnte, wovor wir draußen sicher sind. Und die Frage danach: Was kann hier draußen doch passieren?

[Der Autor steht auf und wendet sich an das Publikum.]

Autor: Vielen Dank für ihre Anwesenheit.

R: Moment mal! Was wollen sie damit erreichen?

A: Ich denke, wir brechen das Stück hier ab.

R: Aber es hat doch eigentlich noch gar nicht angefangen!

A: Das denken sie!

R: Ich habe doch das Drama gelesen.

A: Und ihm sich hier ausgeliefert. Insofern waren sie sich ja schon mit jenem Störenfried einig.

R: Mal langsam! Die Geschichte ist längst zuende geschrieben! Wie wollen sie da noch Änderungen vornehmen?

K: [grinst] Die Schöpfung macht sich selbstständig und kriecht von der Bühne.

R: [zum Autor] Ich habe ihnen die Geschichte aus der Hand genommen. Sie ist jetzt aus ihrer Reichweite.

K: Und danach habe ich sie ihnen aus der Hand genommen, mein Lieber. Sie ist jetzt auch aus ihrer Reichweite.

A: Naja, das hatten wir nun oft genug. Jedes Kind in der Bibelstunde kennt die Fehlerkorrektur der Schöpfung a posteriori.

K: Marx?

R: Nein, Jesus.

K: Und was sagt uns das?

R: Schreibe nie Theaterstücke ohne Schauspieler, denn niemand weiß, wann sie letztlich zuende sind.

[Vorhang]
 

2. Akt

Am Tag nach der Aufführung oder wenig später veröffentlicht der Kritiker seine Rezension des Stückes wie üblich. Diese sollte möglichst vielen der Zuschauer leicht zugänglich sein, damit sichergestellt ist, daß ein großer Teil von ihnen darauf aufmerksam wird.
 

Munster, 26.06.1995


© 2000 Jan Torben Weinkopf