Ich bin weitsichtig, sagte der Mann

Einige Tage später rief dann ein Mann an.  Er wollte mein Programm kaufen. "Ich glaube, es hat Zukunft, junger Mann", sagte er zu mir.  So verabredeten wir uns für den nächsten Tag in einem Cafe. Ich war wider Erwarten etwas zu früh da und konnte meinen Interessenten noch nirgendwo entdecken.  Deshalb nahm ich einen Platz draußen unter der Marquise ein und bestellte mir zuerst einmal einen Milchkaffee.  Eigentlich wäre mir Limonade lieber gewesen, aber man hatte mir schon gesagt, das habe eine schlechte psychologische Wirkung.

Ich beäugte also die Menge auf der Straße in Erwartung des Unbekannten. Ich hatte gerade meinen Kaffee bekommen, da bemerkte ich einen Mittvierziger in einiger Entfernung in meine Richtung winken.  Ich war mir zwar noch nicht ganz sicher, winkte jedoch zurück, um zu sehen, ob seine Aufmerksamkeit mir galt.  Das war wohl der Fall, denn er setzte sich nun in Bewegung und überquerte den Platz.  Ich beobachtete ihn dabei, um einen ersten Eindruck von meinem Interessenten zu bekommen.  Allerdings begann ich schon nach wenigen Sekunden unwillkürlich wegzusehen.  Denn der Mann achtete nur wenig auf den querlaufenden Verkehr und rannte sogleich in eine Frau und ihren fahrradfahrenden Freund hinein.  Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, danach gleich noch durch einen Haufen spielender Kinder zu stapfen und zuletzt noch fast einen am Nachbartisch sitzenden Angestellten in der Mittagspause umzuwerfen.

Der Mann entschuldigte sich zwar immer höflich für seine Gröblichkeiten, schien aber sonst von seinem Ungeschick nicht weiter beeindruckt zu sein. Ganz anders ich.  Wie sollte ich den Unbekannten ansprechen, ohne ihn nicht in Verlegenheit zu bringen?  Das Ganze stillschweigend zu übergehen, war wohl auch nicht der richtige Ansatz.  "Ich hoffe, Sie haben sich nicht Weh getan?", sagte ich schließlich.  "Ah, nein, danke, alles in Ordnung", entgegnete er, "ich bin nur ein Bißchen weitsichtig, und mit dem Alter wird es immer schlimmer.  Ich hoffe meinerseits, Sie mußten nicht zu lange auf mich warten?" "Nein, gar nicht", sagte ich.  "An den ersten warmen Tagen, wenn das Straßenleben wieder anläuft, da würde ich gerne öfter draußen sitzen können (vor allem, wenn die holde Damenwelt ihre kurzen Röcke wieder hervorholt)", fügte ich hinzu.  "Ja", sagte er, "das Frühlingserwachen ist immer wieder schön zu sehen."

Er stellte sich als Cornelius Marquardt vor und gab noch einmal sein Interesse an meinem Programm kund.  Ich erklärte ihm kurz die Entstehungsgeschichte und meine Motivation dabei, bevor ich ihn fragte, wie er denn auf mein Angebot gestoßen sei.  "Oh, eine simple Sache", sagte er, "ich hatte einen Katalog von der Messe mit einer ganzen Seite voll solcher Ausschreibungen.  Ihr Name war der einzige darunter, den ich lesen konnte." Nachdem sich seine Auswahlkriterien als so wahrhaft einfach herausgestellt hatten, wollte ich ihm mein Vorhaben noch einmal präzise darlegen, um keine falsche Vorstellung aufkommen zu lassen.  Ich setzte also zu einer Erklärung an und zog mein Noti aus der Tasche, um es ihm am Bildschirm zu zeigen.  Er winkte jedoch ab und sagte:  "Das wird wirklich nicht nötig sein.  Ich habe doch bereits Ihre (recht umfangreiche) Spezifikation studiert.  Und wenn ich auch nicht alles lesen konnte, so traten zumindest die richtungsweisenden Ideen doch recht deutlich zu Tage." "Das freut mich", erwiderte ich, "aber Sie sagten eben doch selbst, daß es noch einige unklare Punkte gibt.  Ich möchte da nichts im Dunkeln lassen." "Das ist in Ordnung", sagte er, "inhaltlich hatte ich keine Probleme.  Ich sagte aber vielleicht schon mal zuvor, daß ich immer weitsichtiger werde.  Es hat also sicher nichts mit ihrem Text zu tun." "Nunja, in unserem Beruf hilft zum Überleben früher oder später nur noch eine Brille", sagte ich halb im Scherz.  Es schien ihn aber ein wenig unangenehm berührt zu haben.

Er schwieg einen Augenblick, und ich wußte nicht so ganz, wie ich fortfahren sollte.  Dann sagte er:  "Es ist mir tatsächlich ein Bißchen unangenehm, darüber zu sprechen, denn die meisten Leute verstehen es auch nicht richtig.
Hm, Sie erwähnten vorhin die jungen Damen; die meisten sind für mich geradezu unsichtbar, wohl weil sie aus diesem oder jenem Grunde für mich nicht in Frage kommen und für mein Leben überhaupt nur von geringer Bedeutung sind.  Im Büro ist es nicht anders.  Einige meiner eigenen Mitarbeiter in der Abteilung kann ich zwar hören (und sie liegen einem manchmal wirklich schwer in den Ohren), bekomme sie aber nie wirklich zu Gesicht.  Bei anderen, die vielversprechende Aussichten zeigen, habe ich gar kein Problem."

Ich versuchte, mir einen undeutlichen Angestellten vorzustellen.  Dabei kam ich zu keinem klaren Ergebnis, was meine Anteilnahme mit dem bemitleidenswerten Herren eher vergrößerte.  "Es muß sehr schwer für Sie sein, sich im Alltag zurechtzufinden", sagte ich.  "Ach, das hält sich in Grenzen", meinte er, "ich kann ja mein Frühstück sehen und mein Auto.  Und was kümmert mich zum Beispiel ein belangloser Graffiti an der Wand, der zu einem blassen Fleck verschwommen ist?  Nur mit Menschen gibt es oft Probleme, denn die verstehen es am wenigsten, wenn man sie nicht beachtet.
Trotzdem gibt es natürlich ein paar handfeste Nachteile.  Daß ich zum Beispiel einen Spielfilm im Fernsehen sehen konnte, muß schon einige Jahre her sein.  Nachrichten dagegen oder Filme mit Anspruch verhalten sich aber eher gutmütig." "Wie kommen Sie bloß ohne Entspannung aus?", fragte ich. "Nein, so schlimm ist es nicht", sagte er, "ich höre viel Radio und gehe spazieren (was aber bei kontrastarmem Wetter auch nicht immer ungefährlich ist).  Und dann kann ich in jedem Fall immer noch Sport treiben, das ist im Moment ja sogar Mode."

"Schließlich ist mir auch meine Frau eine große Hilfe", fügte er hinzu. "War es schwierig, jemanden zu finden, der mit Ihrem Zustand zurechtkommt?" "Nein, natürlich nicht", sagte er etwas verwundert, "Sehen Sie bei solchen wichtigen Entscheidungen bin ich bis auf zufällige Entwicklungen vor den meisten Risiken sicher.  Als ich meine Frau traf, war ich mir sicher, daß wir gut zusammen leben könnten." Er sinnierte eine Weile, bevor er weitersprach:  "Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher, junger Mann, ob unsere Beziehung Schaden nehmen könnte, wenn wir, nunja, wenn die Kinder außer Haus sind." Er blickte auf meine Hände.  "Sie können das vielleicht noch nicht unbedingt so nachvollziehen, aber hin und wieder wird sie jetzt schon ein klein wenig unscharf.  Ich hoffe, das weitet sich nicht aus, wenn wir ein reiferes Alter erreicht haben." Ich ließ mich darauf ein und versuchte, ihn zu trösten:  "Wenn sie wirklich gut zueinander passen, sollte Sie sich darum eigentlich keine Sorgen machen.  Außerdem, finde ich, ist ihre Sehschwäche vielleicht nicht nur eine besondere Stärke.  Wenn Sie nur auf ihr Augenmaß als Gewissen hören, nehmen Sie sich selbst doch einige Freiheiten.  Schließlich könnten Sie sie noch bewußter auskosten als andere Menschen."

Ich brach dann aber meinen Geisteschwall ab, denn ich wollte ihm immer noch mein Programm verkaufen.  "Aber um auf den Grund unseres Treffens zurückzukommen", sagte ich, "was halten Sie von meinem Angebot?" "Ganz nett soweit", gab er zurück, "Ich glaube aber, unsere Informatikabteilung wird das mit etwas Anstrengung auch noch hinbekommen.  Ich denke im Nachhinein, ich wollte wohl nur mal mit einem Menschen reden, der mich sicherlich verstehen würde.  Darum lassen Sie mich bitte auch für Sie die Rechnung begleichen."

Er zahlte, verabschiedete sich mit aller Höflichkeit und machte sich auf den Weg durch die Fußgängerzone.  (Ob er dabei wieder Leute umrannte, weiß ich nicht mehr.)

Hannover, 27.04./01.05.1998


© 1998 Jan Torben Weinkopf