Das Sandkorn
Ich war einmal ein Sandkorn. Und ich war Teil einer weiten Ebene. Bald
begann es von Zeit zu Zeit zu regnen. Dann löste sich das eine oder
andereSandkorn nahe bei mir vom Boden ab und wurde fortgetrieben. Ich sah
ihnen zu, wie sie wilde Purzelbäume schlugen, vom Wasser über-
und umeinander herumgewirbelt wurden und aneinander abprallten. Sie jauchzten
vor Freude, so daß ihre vielen steinernen Stimmchen wie ein helles
Knirschen klangen. Ich freute mich schon sehr darauf, eines Tages mit ihnen
zu ziehen. Und das Wasser erzählte Geschichten, wenn es von der Ferne
aus dem Himmel zurückkam. Wie den Sandkörnern die bunte Fahrt
gefallen habe, wie sie noch viele andere Sande kennengelernt hätten
und schließlich an der Küste von den erschöpften Fluten
niedergelegt worden seien. Aber ich wurde nicht mitgenommen. Bei jedem
Nieselregen wie bei Hagelschlag und Gewitter hoffte ich, abgehoben zu werden
und mit den anderen treiben zu dürfen. Aber ich wurde nicht mitgenommen.
Lange währte dies, und zuerst spülten die Regengüsse Rinnsale
in das Land, die mit der Zeit zu Bächen wuchsen und dann zu Flüssen.
Immer tiefere Kanäle gruben sie in die Ebene. Und schließlich
ragten nur noch ein paar recht schroffe Spitzen bis zur alten Höhe
empor, während tief unten in einem breiten Tal ein Strom sich wälzte,
mit seiner braunen Fracht beladen. Das Bombardement des Regens wie sein
sanftestes Streicheln schien einfach an mir abzuprallen, ob ich es nun
so wollte oder nicht. Sogar der grobe Frost manchen Winters ließ
mich nach außen ungerührt. Dem Anschein zum Trotz haderte ich
mit meinem Schicksal und klagte wie auch ein paar andere Sandkörner
bei mir in der luftigen Höhe über diese Ungerechtigkeit, sodaß
es schrill mit dem Wind an allen Ecken und Kanten pfiff. Dann jedoch, als
mir die Puste ausging und ich für einen Moment innehielt, sprach aus
meinem Rücken eine Stimme zur mir. Und es war sehr laut und es war
so, als sprächen in dieser einen Stimme tausend andere zusammen. "Sieh
es ein, kleines Sandkorn", sagte sie, "du bist Granit, wie wir. Wir sind
der Fels, und du bist es auch. Magst du dir auch wünschen, mit den
weichen Gesteinen fortgespült zu werden, so sieh doch ein, du hoffst
vergebens. Denn das ist nicht deine Art. Die anderen treiben mit dem Strom,
aber wir machen erst möglich, daß er fließt. Die anderen
haben ein buntes Treiben, aber wir geben die Richtung vor. Der Strom will
auf dem kürzesten Weg nach unten. Aber so leicht machen wir es ihm
nicht. Wir schaffen erst das Oben, ohne das es auch kein Unten gibt." Da
begann ich zudenken. Und Körner und Steine und Felsen können
das bekanntlich sehr lange tun, wenn sie sich nicht aufreiben. Und sollte
ich dann eines Tages doch noch losgeschlagen werden, brauche ich mich nicht
daran zu stören, immer noch Granit zu sein. Das änderte sich
für uns auch dann nicht, wenn wir mit dem Strom schwämmen.
Großburgwedel, 27. Dezember 1995
© 2001 Jan Torben Weinkopf